Buchläden und Internet sind voll von Reiseberichten, und jetzt auch noch bei autofrei leben! - ?!
Keine Sorge: Wir langweilen Sie nicht mit "schönen" Landschaftsbeschreibungen oder Details vom Frühstück im Hotel.
Stattdessen beschreiben die Autor/innen, wie sie ohne Auto unterwegs sind, welche Schwierigkeiten dabei auftreten, aber auch, welche Vorteile die Autofreiheit bietet. Und vor allem werfen sie einen scharfen Blick auf das Mobiliätsverhalten der Menschen vor Ort in ihrem Alltag.
Allen, die nun neugierig geworden sind: Viel Spaß beim Lesen und Schauen !
Montenegro - ist flächenmäßig etwas kleiner als Thüringen und im ganzen Land wohnen nur wenig mehr Menschen als in Dresden oder Leipzig... Das klingt eher bescheiden, doch was in diesem winzigen Land an zerklüfteter Küste, bis heute erhaltenen venezianischen Städten, gewaltigen Gebirgsmassiven und einer einzigartigen Schlucht zu sehen ist, das verschlägt Einem schon mal den Atem.
Zu alledem führt eine Eisenbahnstrecke von Norden nach Süden durch das Land, deren Bau Zeugnis höchster Ingenieurleistung ist und die pausenlos das Gefühl vermittelt, durch schweizerische Gebirgspässe zu fahren. Ein Land der Superlative! Wenn man dann noch liest, dass der Schutz der einzigartigen Landschaft und Natur als Staatsziele festgeschrieben sind und mehrere Nationalparks als besondere Schutzgebiete ausgewiesen sind, kennt die Begeisterung eigentlich kaum noch Grenzen. Also haben wir uns als Autofreie mit hohen Erwartungen auf den Weg gemacht in dieses kleine Land an der südlichen Adria, um dort fast drei Wochen Urlaub zu verbringen.
Die Anreise mit der Bahn war kein Problem - ja eher ein Genuss: Im eigenen Zweibettabteil für 69,- € pro Person die ersten 1000 km bis nach Budapest im modernen tschechischen Schlafwagen ohne lästige Grenzkontrollen, das war schon eine ausgezeichnete Einstimmung. Für den zweiten Abschnitt (Budapest - Belgrad) hatten wir die Wahl: In der zweiten Klasse hätte die einen Monat lang geltende Rückfahrkarte für jeden 26,- € gekostet; doch angesichts des überaus günstigen Preises haben wir uns dann entschieden, für knapp 48,- € pro Person in der 1.Klasse hin und zurück zu reisen (je 375 km).
Der dritte Abschnitt von Belgrad nach Sutomore an der montenegrinischen Adria-Küste war dann wieder eine Nachtfahrt. Die einfache Fahrt (es gibt keine
Rückfahrermäßigung) kostet für die 550 km gerade mal 21,- €. Als Zusatzleistungen werden Liege- und Schlafwagen angeboten: Liegeplätze kosten 6,- € im
Sechser- bzw. 9,- € im Viererabteil; ein Bettplatz im Dreibettabteil ist für 15,- € und einer im Zweibettabteil für 20,- € zu haben.
Damit ist die Bahnreise weder von der Bequemlichkeit noch vom Fahrpreis völlig unschlagbar; angemerkt sei noch, dass diese Preise unabhängig vom Vorhandensein von BahnCard oder anderen Ermäßigungskarten gelten; auf dem Abschnitt zwischen Berlin und Budapest ist lediglich eine längere Vorbuchung notwendig (Buchungsbeginn ist bereits sechs Monate vor dem Reisedatum!).
Im Lande selbst gibt es überhaupt nur zwei Eisenbahnstrecken: Die eine ist die eben beschriebene von der serbischen Grenze bei Bijelo Polje über die montenegrinische Hauptstadt Podgorica bis zur Hafenstadt Bar, wobei die Küste schon knapp 10 km vorher in Sutomore erreicht wird.
Die zweite Eisenbahnstrecke führt von Podgorica nach Nikšić und befindet sich derzeit in Rekonstruktion. So nimmt es nicht Wunder, dass innerhalb des Landes der Omnibus das hauptsächliche Beförderungsmittel ist. Im Gegensatz zum Bahnbetrieb (der übrigens - bis auf den Regional-Pendelzug auf der kurzen
Strecke zwischen Podgorica und Bar komplett mit neuwertigem Wagenmaterial abgewickelt wird), wo auch im Binnenverkehr nur ca. 0,04 €
je Kilometer erhoben werden) erinnern die Busfahrpreise durchaus an heimatliche Verhältnisse, wenn man bedenkt, dass für die 30 km von Sutomore bis Budva ganze 4,- € zu zahlen sind (eine äquivalente Entfernung innerhalb des VBB kostet da auch nicht mehr....).
Was aber noch schwerer wiegt, ist der Umstand, dass sich das Busliniennetz ausschließlich am Eigenbedarf orientiert und viele ausgewiesene touristische Ziele überhaupt nicht (!) mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sind. Dieses Land setzt also voll auf den Autotourismus in allen seinen Formen: Entweder kommt
der Tourist mit seinem eigenen PKW oder er lässt sich vom Quartiergeber bereits am Flughafen abholen und pausenlos durch die Gegend kutschieren. Für ein paar ganz Individuelle steht dann noch ein Überangebot billiger Taxis bereit; Tourismus durch Nutzung des öffentlichen Bahn- und Busangebots scheint außerhalb jeglichen Vorstellungsvermögens zu liegen. Das äußert sich u.a. auch darin, dass es (bis auf wenige Ausnahmen) nahezu unmöglich ist, sich über komplette Fahrplanangebote einer bestimmten Strecke zu informieren, da fast alle Relationen von mehreren konkurrierenden Unternehmen bedient werden. In der Praxis ist das aber nicht so tragisch, da an der stark befahrenen Küstenstrecke die Fahrplandichte der Busse teilweise höher liegt als im Berliner Stadtverkehr.....also, einfach zur Haltestelle gehen, da kommt schon irgendeine Linie in den nächsten Minuten vorbei....
Da wir neben der Küstenregion auch das (wohl älteste) europäische Naturschutzgebiet "Biogradska Gora" (es wurde bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jhdt. von König Nicola unter Naturschutz gestellt!) sehen wollten, blieb uns also nichts weiter übrig, als von Mojkovac aus für die letzten 9 km ein Taxi zu nehmen (8 €). An der unmittelbaren Zufahrtstraße wurde dann Eintrittsgeld (3 € je Person) zum Betreten (oder wohl genauer: Befahren) des Schutzgebietes kassiert, was dann aber auch gleich eine Art Freibrief zur ungehemmten motorisierten Erkundung dieses Gebietes darstellt, wie wir an den Folgetagen noch deutlich feststellen mussten.
Zwar gibt es keinen betonierten Parkplatz am See, doch dafür recht ungeordnetes Parken inmitten der ("geschützen") Landschaft. Die Hoffnung, in diesem Gebiet in einer der zwölf als Quartier zur Verfügung stehenden verhältnismäßig einfachen Holzhütten mal in Stille und Einsamkeit übernachten zu können, erwies sich ebenfalls als trügerisch, da die motorisierten "Tages-"besucher einfach mal bis nach Mitternacht lärmen und ihren Müll liegen lassen - mit dem Auto kann man ja auch in den frühen Morgenstunden zurückkehren (wo auch kein Mensch auf die Idee käme, den Alkoholspiegel zu kontrollieren....). Am "Naturfreunde"-Haus wird großflächig für Fotosafaries geworben, bei denen man mit einem Jeep durch die "unberührte Natur" kutschiert wird.....
Einer der wenigen "Wander"-wege zeigt deutliche Spuren von Abschürfungen durch motorisierten Verkehr und nach mehreren Stunden Wanderung
begegneten wir dann einer Gruppe Motorbiker aus Österreich und Deutschland....wie peinlich! Ähnlich widersinnige Verhältnisse fanden wir übrigens am vielgepriesenen Skutari-See (skadarsko jezero), wo sich laut knatternde Touristenboote durch den Schilfgürtel fressen, um den zahlenden Besuchern den unermesslichen Artenreichtum (vor allem an verschiedenen Müllarten von der weggeworfenen Trinkflasche aus unvergänglichem Plastik bis zum metallenen Ölkanister) zeigen zu können!
Das schreit alles irgendwie zum Himmel und ich hoffe jedoch ein wenig, dass in so einem winzigen, überschaubaren Land ein paar sachdienliche Hinweise, insbesondere, wenn diese nicht nur von einer Privatperson, sondern von einem Verein kommen, der auf Erfahrungen im Umgang mit einer dem Menschen dienenden Zurückdrängung des MIV zurückgreifen kann, zumindest erst einmal die Problematik bewusst werden lässt.
Diese - bis jetzt wohl nur auf dem Papier so genannten Schutzgebiete – eignen sich ja hervorragend zum Ankurbeln eines auto- (und motorrad-)freien Tourismus. Was den See betrifft, so könnten batteriebetriebene Kleinboote die knatternden Benziner ablösen. Eine strenge Kontrolle beim Betreten der Boote kann die Mitnahme von Einwegverpackungen untersagen sowie für die Mitnahme von Mehrwegflaschen ein hohes zusätzliches Pfand einfordern, um die Rückgabe an Land zu attraktivieren. Die Plätze, an denen Exkursionsfahrten beginnen und enden, lassen sich so auswählen, dass nicht viele hundert Meter Schilfgürtel durchfahren werden müssen. (Es gibt sowohl eine Eisenbahn- als auch eine Straßenbrücke, an deren Pfeilern kein Schilf wächst.)
Das Schutzgebiet am Biogradska Gora ließe sich, ebenso wie das Dormitorgebirge, mit regelmäßig verkehrenden Linienbussen (ggf. Kleinbussen) erreichen und damit zumindest die 4 km lange Zufahrtstraße zum Biogradsko Jezero für den privaten Kfz.-Verkehr gänzlich sperren. Da diese Straße in Serpentinen verläuft, könnte sogar über den Bau eines Sesselliftes nachgedacht werden, dessen Strecke ja wesentlich kürzer wäre. (das wäre zwar auch ein Eingriff in die Natur, der jedoch langfristig die Belastung gegenüber dem jetzigen Zustand wesentlich mindern würde.
Vor allem aber muss den Verantwortlichen wohl erst einmal die Angst davor genommen werden, dass mit solchen Maßnahmen potenzielle Touristen verprellt werden könnten. Mag sein, dass der eine oder andere wegbleibt (der dort auch gar nicht hingehört!), entscheidend aber ist, dass damit endlich Besucher ins Land geholt werden, denen selbst an der Erhaltung der noch weitgehend intakten Natur gelegen ist.
Abschließend noch ein paar Worte zu unseren Erfahrungen in der Küstenregion. Hier konnten wir recht deutliche Unterschiede zwischen dem nördlicher gelegenen Gebiet um Herceg Novi bzw. der Bucht von Kotor einerseits und der südlicheren Region um die Hafenstadt Bar feststellen. Während im Süden der motorisierte Verkehr alleiniger Beherrscher der Straßen (selbst innerorts) ist und wir es nicht gewagt hätten, auch nur kurze Entfernungen mit einem Fahrrad zurückzulegen (abgesehen davon, dass auch nirgendwo welche zum Ausleihen angeboten wurden), ist die an Kroatien grenzende Region ganz offensichtlich
auf Radfahrer und Fußgänger eingerichtet: An der Strandpromenade gibt es alle paar hundert Meter tourentaugliche Räder zu sehr moderaten Preisen auszuleihen (10,- € für den ganzen Tag von morgens 8 Uhr bis abends 20 Uhr) und man fühlt sich durchaus mit dem Rad als Verkehrsteilnehmer wahr- und ernstgenommen. Auf der Strandpromenade selbst herrscht ausgesprochener Mischverkehr, der natürlich in erster Linie aus Fußgängern besteht, jedoch sowohl den Fahrrad- als auch den PKW-Verkehr (als Zubringer zu den Strandhotels und -pensionen) toleriert. Entlang dieser ortsübergreifenden Strandpromenade lässt sich ein beachtlicher Teil der Wegstrecke von Herceg Novi bis zur Autofähre an der engsten Stelle der Bucht von Kotor gefahrlos zurücklegen. An verschiedenen Stellen, häufig weniger als einen Kilometer lang, reicht jedoch das Gebirge so dicht ans Meer heran, dass der Platz nur für eine gemeinsame Verkehrsführung in Form einer Straße ohne Gehweg für alle Verkehrsteilnehmer reicht. Zu unserer Überraschung waren diese Stellen (die ja auch stark von Fußgängern frequentiert wurden) jedoch konsequent mit Geschwindigkeitsbeschränkung auf 40 km/h ausgeschildert und - häufig auch durch die Verkehrspolizei auf die Einhaltung des Tempolimits kontrolliert.
Die ca. zehnminütige Fährüberfahrt zwischen Kamenari und Lepetane ist übrigens für Fußgänger unentgeltlich (!), die Mitnahme eines Fahrrades kostet 1,- €. Dieser Fährverbindung ist es auch zu verdanken, dass ein Großteil des Autoverkehrs in Richtung Süden abgeleitet wird, so dass bei der weiteren Umrundung der Bucht der nur mäßige PKW-Verkehr kaum stört. So war der 74 km lange Tagesausflug von Herceg Novi um die gesamte Bucht bei ca. 35 Grad Durchschnittstemperatur mit vielen Pausen, nicht nur in der absolut sehenswerten Stadt Kotor und dem als ganzes unter Denkmalschutz stehenden Fischerstädtchen Perast eine Tour, an die wir sehr gerne zurückdenken.
Alles in allem lässt sich sagen: Mit ein wenig Erfahrung bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel ist ein Besuch Montenegros nicht nur möglich, sondern ausgesprochen empfehlenswert. Das Tarifchaos, wie es nicht nur in unserem Lande herrscht, sondern sich wie eine Pest selbst über Teile Osteuropas auszubreiten beginnt, ist dortzulande völlig unbekannt. Es gibt keinerlei Verkehrs- oder Tarifverbünde - und das macht die Nutzung der Öffentlichen so einfach: Jedes Verkehrsmittel verkauft seine eigenen Fahrscheine; die Eisenbahn fährt - an westeuropäischem Einkommen gemessen - zum Spottpreis und die Busfahrpreise sind moderat. Es gibt keine Frühbuchertarife, man kauft einfach seine Fahrkarte und fährt los - für den Busverkehr an der Küste braucht man nicht mal einen Fahrplan; der Bus kommt ohnehin in den nächsten 5 bis 10 Minuten.
Gottfried und Beate Schlegel reisten im Sommer 2012 mit der Bahn nach und durch Montenegro.
Gottfried ist Bahn- und Tarifexperte in seiner eigenen Bahnagentur.
Kontakt:
Fahrkarten Schlegel
Glanzstr. 2, 12437 Berlin
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
www.fahrkarten-schlegel.de
Auf der nächsten Seite: Instinktive Mobilität - Fortbewegung in kleinen und mittleren Großstädten Chinas
(Handelsblatt) Nur mit einem massiven Ausbau des Straßennetzes lasse sich der Verkehrsinfarkt beheben, deshalb fordert der ADAC ein „gezieltes Anti-Stau-Programm“. Zwei kanadischen Verkehrsökonomen kommt zu einem anderen Ergebnis: Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten.
Verkehrskollaps, Todesopfer, Klimawandel. Die herkömmliche Verkehrsplanung löst keine Probleme, sondern erzeugt sie. Über das Versagen der herkömmlichen Verkehrsplanung.
"Armut ist hierarchisch, Smog ist demokratisch."
--- Ulrich Beck