Sicherheitsphilosophie auf den Straßen

In vielen Nachbarländern sind die gegenseitige Achtung und Rücksicht eine Grundmentalität im Straßenverehr und verhindern viele Unfälle. In Deutschland werden die einzelnen Verkehrsmittel räumlich getrennt, und ein dichtes Geflecht von Ge- und Verboten soll vorrangig dafür sorgen, dass der Autoverkehr ungestört fließen kann. Radfahrer und Fußgänger sollen "geschützt“ werden, indem man sie möglichst von den Straßen fern hält. Sie dürfen die Fahrbahn nur an wenigen Stellen für kurze Zeit betreten, müssen den Radweg benutzen  und werden mit Drängel- und Absperrgittern davon abgehalten, den Autos ihren Weg zu versperren.

Wenn ein Radfahrer oder Fußgänger es doch mal wagt, den gleichen Platz und dieselbe Freizügigkeit im öffentlichen Raum in Anspruch zu nehmen wie ein Pkw, riskiert er sein Leben. Viele Autofahrende wähnen sich - mit der Legitimation der StVO im Rücken - moralisch im Recht, die schwächsten Verkehrsteilnehmer mit ihren tonnenschweren Stahlkolossen zu bedrohen, wenn diese den ihnen zugewiesen Platz am Rand verlassen. Durch die technische Entwicklung an den Fahrzeugen werden die Insassen der Autos von Jahr zu Jahr immer besser geschützt, aber Fußgänger und Fahrradfahrer bleiben als äußere Störfaktoren des motorisierten Verkehrs unverändert in Gefahr.

Kinder können nicht auf der Straße spielen und müssen entweder zu Hause bleiben oder dürfen die Welt da draußen nur aus dem Auto heraus sehen. Da man nicht erwarten kann, dass sie die kaum vermittelbaren Regeln der Straßenverkehrsordnung so beherrschen wie Erwachsene, sind sie doppelt gefährdet. Sie unterschätzen die Gefahr, und werden auch noch leichter übersehen. Wenn Kinder doch mal zu Fuß unterwegs sind und eine Straße überqueren wollen, sind sie hinter geparkten Autos nicht zu sehen. Ihr Kopf ist genau auf der Höhe der Motorhaube. Der Schulweg ist gefährlich und wird deswegen in vielen Fällen im Mamataxi zurückgelegt, die ihn wiederum gefährlich machen.

Sicherheitsgewinn durch weniger Autoverkehr

In einer Gesellschaft mit einem menschengerechten Mobilitätssystem wäre es nicht mehr nötig, den wenigen verbliebenen Autos (Carsharing, Rettungsfahrzeuge) weite Teile des öffentlichen Raums bereitzustellen, die dann zu Kampfplätzen der PS-Monster werden. Die Sicherheitsphilosophie würde den schwächsten Verkehrsteilnehmern die meisten Rechte, die höchste Priorität geben. Autos hätten keinen Vorrang mehr, niemand würde mehr verdrängt oder eingezäunt. Gegenseitiger Respekt und Fahren auf Sicht statt blind nach Regeln der StVO würden die Unfallzahlen drastisch senken. Autofahrende müssten ihre Geschwindigkeit anpassen, sobald sie mit Fahrradfahrern oder Fußgängern den Platz teilen.

Der Verkehr wäre insgesamt sehr viel langsamer, und der Autoverkehr würde nicht mit allen Mitteln beschleunigt, sondern „gezähmt“. In der Stadt gäbe es eine absolute Höchstgeschwindigkeit von 30km/h, die auch eingehalten wird. Autos dürften Wohngebiete nur zur Belieferung in Schrittgeschwindigkeit befahren und hätten in ihnen sonst nichts zu suchen. Ein System von begrenzten Parkflächen am Rand, einspurigen Einbahnstraßen, Sackgassen und Diagonalsperren würde das reine Durchqueren dieser Quartiere verhindern. Der öffentliche Raum gehörte wieder den Menschen.

Zitate

"Radfahrer werden vom Autostrom bedrängt. Autos nehmen ihnen die Vorfahrt, schneiden sie beim Rechtsabbiegen und lassen sie über unbedacht geöffnete Autotüren stürzen.[...]Wohlstand verdrängt die Zweiräder aus dem Straßenbild, aber doch nicht so schnell, wie es im Interesse der Verkehrssicherheit auf den Straßen wünschenswert wäre.[...]Fahrräder [...] gehören nicht in den Großstadtverkehr,[...]"

--------- Artikel in der ZEIT von 1969!